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2021 – Bunte Vielfalt der Heileurythmie /Eurythmietherapie

Jeden zweiten Monat werden wir in dieser Vielfalt-Rubrik die Heileurythmie-Arbeit aus verschiedenen Ländern und Gebieten vorstellen. Damit möchten wir die Fülle der Heileurythmie/Eurythmietherapie in die Sichtbarkeit bringen.

Im zweiten Teil möchten wir Heileurythmie/Eurythmietherapie in der Heilpädagogik in den Fokus nehmen. Das Video zeigt uns die zauberhafte Arbeit in Armenien.

  • Die Anfänge der Heileurythmie/Eurythmie-Therapie in der Heilpädagogik und Sozialtherapie (Wilburg Keller Roth)
  • Hoffnungsvolle Momente aus der Heilpädagogik in Armenien (Irina Sorokina)
  • Drei Erfahrungen mit Heileurythmie in Heilpädagogischen Heimen (Marianna Bauko)


Die Anfänge der Heileurythmie/Eurythmie-Therapie in der Heilpädagogik und Sozialtherapie

Schon bald nach seiner Gründung 1921 wurden in das klinisch-therapeutische Institut in Arlesheim auch Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen aufgenommen und später in einem eigen Haus, der «Holle», und ab 1924 im Sonnenhof in Arlesheim betreut. Zur gleichen Zeit begründeten drei junge Heilpädagogen das Heim auf dem Lauenstein bei Jena. An der Stuttgarter Waldorfschule wurden schon ab 1919 in einer eigenen Förderklasse entwicklungsverzögerte Kinder aufgenommen und behandelt. So entwickelte sich aus der Zusammenarbeit der Lehrer und der ersten Eurythmistinnen mit Rudolf Steiner die Heil-Eurythmie für Kinder mit speziellen Bedürfnissen und Einschränkungen. Inzwischen hat sich die Heileurythmie mit etwa 650 anthroposophischen Einrichtungen für Heilpädagogik und Sozialtherapie in über 50 Ländern über alle Kontinente der Erde hin ausgebreitet.

Der neunjährige Sandroe, dessen Kopf durch eine Zangengeburt eingeengt war und dessen Entwicklung sich nach einem Sonnenstich mit etwa neun Monaten verzögert hatte, war eines der ersten Kinder, das zur Behandlung nach Arlesheim gebracht wurde. Die Heil-Eurythmie wurde hier zunächst von den zwei jungen Ärztinnen Julia Bort und Margarete Kirchner-Bockholt ausgeführt. Der Besprechung von Sandroe im Rahmen des heilpädagogischen Kurses 1924 verdanken wir die schönste Beschreibung und Erläuterung einer heileurythmischen Lautreihe durch Rudolf Steiner selbst: «[E]r macht R und L. R ist die Drehung, da dreht sich etwas, da ist schon die Beweglichkeit drinnen. […] [L ist] der Buchstabe, der anzeigt das Anschmiegen, das sich Hineinversetzen in etwas. Er braucht das Geschmeidigmachen des Organismus, um sich hineinzuversetzen in etwas. […] wir müssen sehen, dass der Ausatmungsprozess möglichst mit Teilnahme angeregt wird, das geschieht im M. Das ist der Ausatmungslaut[…]. Im N liegt das Zurückleiten ins Intellektuelle. So das man machen wird R L M N. - Sie sehen aber auch da: überschaut man einen Tatbestand, dann ist die Sache so, dass man weiss, was man zu tun hat. Man muss wissen, welches die Natur des Lautes ist. Man muss in der Eurythmie darinnenstehen, man muss auf der anderen Seite aber auch tatsächlich hineinschauen in die körperliche Organisation. Beides sind Dinge, die man lernen kann, … » 

Es ist oft berührend zu erleben, wie in der Eurythmie und Heil-Eurythmie Verhaltensauffälligkeiten wie quälende Unruhe, Scheu und Aggressivität, aber auch körperliche Deformitäten zurücktreten und das gesunde und harmonische Menschenwesen sichtbar wird. In den körperlichen und seelischen Einseitigkeiten können aber auch einzelne Lautqualitäten besonders deutlich erscheinen, so etwa U bei Sandroe oder R bei Robert. Dadurch werden die von uns betreuten Menschen zu unseren Lehrern, so wie Sandroe, der lebenslang von sich gesagt haben soll: «Ich bin der erste Heil-Pädagoge».

Weitere Quellen zum Thema Heileurythmie in der Heilpädagogik:

  • www.freunde-waldorf.de
  • www.anthroposophie.ch/de/heilpaedagogik-sozialtherapie
  • Selg, P. (2004): Der Engel über dem Lauenstein. Siegfried Pickert, Ita Wegmann und die Heilpädagogik. Dornach 
  • Strohschein, A. (1967): Die Entstehung der anthroposophischen Heilpädagogik. In: Krück von Poturzyn, M.J. (Hrsg.): Wir erlebten Rudolf Steiner. Erinnerungen seiner Schüler. (3. Aufl.) Stuttgart, S. 211–226. 
  • Niklaus Hottinger: Sonnenhof Arlesheim und seine Geschichte von 1924 bis heute, Hg. v. Sonnenhof Arlesheim und Edition Text und Media 2016, geb., 330 Seiten, 180 Abb., Fr. 35.- (plus Porto).
  • Wilhelm Uhlenhoff, Die Kinder des heilpädagogischen Kurses, Verlag freies Geistesleben
  • Julia Bort, Heil-Eurythmie mit Seelenpflege-bedürftigen Kindern
  • Margarete Kirchner Bockholt, Grundelemente der Heil-Eurythmie
  • Heileurythmie und Hygienische Eurythmie, Persephone-Reihe, Verlag am Goetheanum
  • Rudolf Steiner, GA 317, 6. und 7. Vortrag vom 1. und 2.7.1924


Hoffnungsvolle Momente aus der Heilpädagogik in Armenien 

Armenien ist ein Land an den Ausläufern des Berges Ararat. Die Form von Armenien erinnert an das Profil eines Mädchens, das nach Westen schaut. Dies ist alles, was von dem einst großen alten Armenien vom Mittelmeer bis zum Kaspischen Meer übrig geblieben ist. Armenien ist älter als Rom. Es war der erste Staat, der das Christentum als Staatsreligion annahm. Nach unruhigen Kriegszeiten in der Vergangenheit steht Armenien am Rande des Verlustes seiner Staatlichkeit, an der Schwelle zu einem neuen Krieg. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion arbeiten die bekannten "ungebetenen Gäste" unermüdlich daran, das Land von innen heraus zu zerstören. So werden hier, sowohl im Krieg als auch im Frieden, die neuesten Welttechnologien getestet.

In den harten postsowjetischen Zeiten wurde die erste und bisher einzige Waldorfschule in Armenien gegründet. Auch in schweren Zeiten für das Land wurde unsere Arbeit nie unterbrochen. Unsere Schule ist 27 Jahre alt. Die heilpädagogische Gruppe gibt es seit 16 Jahren. Die Gruppe hat eine starke Basis von Therapien und  arbeitet mit dem einzigen anthroposophischen Arzt in Eriwan (der Hauptstadt Armeniens) und mit dem einzigen Therapeuten für rhythmische Massage im Lande zusammen. Das Ziel der Gruppe ist es, die Therapiekinder so weit wie möglich in den allgemeinen Bildungsprozess zu integrieren.

Jedes Kind erhält seinen individuellen Stundenplan: In bestimmten Klassen sitzen sie allein oder mit einem Tutor, in anderen werden sie zum Einzelunterricht oder zur Therapie herausgenommen. Die meisten Klassenlehrer öffnen die Türen der Klasse für das Therapiekind. Und das hat schon etwas von Therapie. Meist erscheint schnell eine Art "Wächter" aus der Klasse neben dem therapeutischen Kind.  Die Kinder nehmen immer an allen Aktivitäten im Klassenzimmer teil. Sie führen auch Theaterstücke mit ihnen auf, es gibt offene Klassen für Eltern, Konzerte, Ausflüge mit Exkursionen und sinnvolle Arbeiten. Die Eltern werden oft in die Arbeit der Gruppe einbezogen. Die offensichtlichen Erfolge der Kinder, ihre Verwandlungen sind immer das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit.

Die Gruppe begann sich zu bilden, als die Schule 12 Jahre alt war. Die in der Schule arbeitenden Lehrer begannen, sich um die adoptierten Therapiekinder zu scharen. Auch Eltern und homöopathische Ärzte, die mit Kindern arbeiten, traten mit ihren pädagogischen Fragen an die Schule heran. Für Kinder, die von außerhalb der Schule kommen, wurde eine soziale Organisation "Mairi" gegründet. Im achten Jahr wurde die Gruppe in ein eigenes sozialtherapeutisches Zentrum, Mairi, ausgegliedert. Im fünfzehnten Jahr hat die führende heilpädagogische Fachkraft der Schule für die Arbeit mit Kindern im Vorschulalter ihre Arbeit in das "Schoghik"-Zentrum für gesunde Kindheit und Heilpädagogik verlegt.

Am Anfang hatten wir keinen Platz zum Arbeiten: Wir arbeiteten in freien Klassenzimmern oder auf den Fluren der Schule. Jetzt haben wir drei kleine Räume vor dem Schulgebäude für unsere Arbeit angemietet. Wir nennen es "Das Haus". Im Eurythmie-Atelier arbeite ich mit älteren Kindern - sowohl mit Jugendlichen als auch mit Erwachsenen. Ich arbeite als Eurythmielehrerin in einer Schule. Ich nehme Kinder in der ersten Klasse in das Fach auf und schließe in der zwölften Klasse ab. Ich arbeite in einer therapeutischen und pädagogischen Gruppe seit dem Beginn ihrer Gründung. Ich unterrichte in einer pädagogischen Werkstatt. Ich betreue die Arbeit der Eurythmieausbildung in Armenien.


Die Teilnehmer des Kurzfilms sind heilpädagogische Kinder - Schüler des Eriwaner Aregnazan Waldorfpädagogik-Komplexes. Als allgemeinbildende Schule integriert sie seit 1994 in angemessenem Rahmen heilpädagogische Kinder in den allgemeinen pädagogischen Prozess. Mit der Zeit wurde eine heilpädagogische Gruppe geschaffen. Die Arbeit einer Heileurythmistin ist ein Teil der kollegialen Arbeit von Spezialisten um diese Kinder. 

Besonderen Dank an die Authorin des Filmes, an Anush Martirosyan, Studentin des pädagogischen und eurythmischen Seminars, ohne die der Film nicht entstanden wäre. Und an Heileurythmistin Irina Sorokina.
 

Drei Erfahrungen mit Heileurythmie in Heilpädagogischen Heimen


„Wenn wir Menschen behandeln, wie Sie sind,
dann machen wir sie schlechter;
wenn wir sie dagegen behandeln, als wären sie bereits so, was sie sein sollten,
dann bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.“

Johann W. von Goethe


Meine erste Begegnung mit Heileurythmie war im Camphill Hemel en Aarde, in Hermanus, Südafrika. Ich lebte dort als junge Mitarbeiterin, teilte das Leben mit den Kindern in einem der Häuser, unterrichtete Eurythmie und half in der Camphill-Schule mit. Die Camphill-Schule hatte eine Eurythmie-Therapeutin, die zweimal im Jahr kam und ein paar Wochen lang intensiv mit einer kleinen Anzahl von Kindern arbeitete. Es fühlte sich an wie eine magische Reise durch die Gärten mit blühenden Blumen, Büschen, Bäumen und  Gemüsebeeten, wenn sie mit den Kindern zum  Eurythmieraum ging. Ich empfand es als so heilsam für diese Kinder, von der äußeren Natur, dem ätherischen Bereich, gehalten und geführt zu werden und durch die Eurythmiegebärden in ihre eigenen Lebenskräfte zu gelangen. Die Eurythmie-Thearapie konnte die heilenden formenden, kosmischen Kräfte einbringen. Ich hatte die Möglichkeit, die meisten Kinder kennenzulernen, einen Blick oder ein starkes Gefühl zu bekommen, wenn auch nur für einen Moment, wer sie wirklich sind. Sie waren auch in der Lage, mir wie in einem Spiegel zu zeigen, wer ich wirklich war. Wenn die vielen Schichten von Schutzblättern abfallen und wir eine nackte Seele ohne die Last von Süchten, Aggressionen, Obsessionen, Ängsten sehen, dann bittet der Geist um Hilfe. Ich wollte helfen, ich wollte die Werkzeuge und das Wissen dazu haben, durch Heileurythmie. Deshalb entschloss ich mich, die therapeutische Ausbildung zu machen.

Jahre später machte ich mein halbjähriges Praktikum im Pflegeheim Sonnenhof, Arlesheim, Schweiz. Diesmal konnte ich zum ersten Mal als Heileurythmistin mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen arbeiten, die ein unterschiedliches Alter, einen unterschiedlichen Hintergrund und Schwierigkeiten hatten. Ich traf dort Kinder mit schweren körperlichen Bedürfnissen, aber mit erstaunlichem Durst nach Leben, nach Freude, nach Lernen. Auf der anderen Seite hatten Kinder mit perfekten, schönen physischen Körpern Schwierigkeiten, eine Verbindung mit sich selbst und der Welt um sie herum herzustellen. Es ist eine so wunderbare, aufregende Arbeit, einem Menschen zu helfen, durch Bewegung Bewusstsein in seinem Körper zu erlangen, durch die Rhythmen den Puls des Lebens zu spüren und durch die Eurythmie-Gesten mit den kosmisch-formenden Kräften der Natur zu arbeiten. Zwei hauptamtliche Heileurythmisten waren dort beschäftigt und arbeiteten 2-3 Mal pro Woche mit den Kindern. In der Regel unterstützte ein ganzes therapeutisches Team mit anthroposophischem Arzt, Lehrer, Hauseltern und verschiedenen Therapeuten jedes Kind so, dass seine Bedürfnisse erfüllt werden und es sein wahres Potential in diesem Leben und in der Zukunft erreichen kann.

Meine dritte Begegnung mit "Heileurythmie in Pflegeheimen" hatte ich in Garvald West Linton und Garvald Centre Edinburgh in Schottland, wo ich zehn Jahre lang an beiden Orten gearbeitet habe. Diesmal hatte ich die Möglichkeit, Erwachsene mit besonderen Bedürfnissen kennen zu lernen. Einige der Bewohner haben fast ihr ganzes Leben in Garvald West Linton verbracht, sie sind schon seit ihrer Kindheit hier, als Garvald noch eine Schule war. Seit diese Kinder erwachsen geworden sind, hat sich der ganze Ort in ein Pflegeheim mit Werkstätten verwandelt. Andere lebten speziell in Garvald Edinburgh allein in betreuten Unterkünften und fanden die Gemeinschaft und die sinnvollen Aktivitäten in den Werkstätten des Tagesservice. Die meisten Menschen hatten während ihres Aufenthaltes mehrere Blöcke Heileurythmie-Sitzungen, eingebettet in ihren Wochenrhythmus. Für die meisten war die Heileurythmie ganz natürlich und sie bewegten sich mühelos, indem sie sich mit den gestaltenden Kräften verbanden, diese anzapften, indem sie die Gesten beseelt, künstlerisch gestalteten oder die Bewegungen mit der Freude und Schönheit eines Kindes nachahmten.

Im Laufe der Jahre habe ich erkannt, wie stark die heilende Wirkung einer Gemeinschaft auf das Leben eines Einzelnen sein kann. Sie hat sehr unterschiedliche Qualitäten, abhängig von der Umgebung (Natur, Bauernhof, mitten in der Stadt), welche Fähigkeiten die Einzelnen haben (Handwerk, Kunst, Musik, Poesie, Tanz…), welche individuellen und einzigartigen menschlichen Qualitäten die Menschen mitbringen. Heileurythmie ergänzt all diese Qualitäten, als Nahrung für Körper, Seele und Geist. Die Heileurythmie ist heute wahrscheinlich wichtiger denn je in diesen chaotischen, unsicheren, isolierenden, ängstlichen Zeiten, in denen reale menschliche Verbindungen zur virtuellen Realität verblassen.